kungsleden (2023) – rakt fram: 00 prolog
flod (flut)
seit tagen beobachte ich die wetteraps + livecams rund um abisko (mit betonung auf der 1. silbe: ábisko/kíruna/hémavan): der schnee scheint nicht zu schmelzen + ich frage mich, ob der winter dieses jahr, das das wärmste seit 125.000 jahren werden soll, zum 1. mal in den beiden sommermonaten, die die einzigen sind, in denen man den kungsleden überhaupt wandern kann (ohne ski), hartnäckig+trotzig bleibt. “euch zeig ichs noch!”1
aber plötzlich+heftig setzt in der 3. juniwoche die schneeschmelze ein + bringt mit sich 1 mittlere flutwarnung, die passend dazu meine panik triggert: sie bricht, im wahrsten sinne des wortes, aus mir heraus. ich habe 1 essstörungsrückfall, den ich später stilisiere, weil 1 rückfall kein rückschritt, weil 1 essstörung nie wirklich weg, der aber im moment sich anfühlt wie das große scheitern des letzten kurierungsversuchbeginns vor 1,5 jahren. was ist passiert?
allein
ich wollte den kungsleden allein gehen oder vielmehr: habe ich mich gefragt, jahrelang, ob ich ihn überhaupt allein gehen könnte. 2014 war ich zum 1. mal in schweden, mit dem damaligen partner, der die planung der wanderung der kürzesten kungsleden-etappe in vollkommener eigenregie übernahm – ich war bestensfalls 1 anhängsel, das sich bereit erklärt hatte, mitzugehen. ich war läuferin + hatte vom weitwandern wenig ahnung. 1 jahr zuvor war ich den e9 1 stück an der ostseeküste entlang von rostock nach barth übers flachland getrödelt – und 3 tage der reise hatte ich schon nur aufm darß zum schreiben verbracht. bevor ich also 2015 nach der absehbaren trennung vom abschnittsgefährten wieder an mein altes einsiedler*innen da_sein + den e9 von wolgast nach barth anknüpfte, flogen wir mit je 20-30 kg marschgepäck richtung lappland.
ich war nicht prepared. ich hatte nichts geplant, nichts gekauft, alles g. überlassen + war erstaunt, als wir vor ort waren: oho! das ist ja gar nicht so einfach, keine leichte tour am strand entlang: es geht durchs fjäll.
es wurde 1 extreme, existenzielle tour: stundenlange märsche mit schweren rucksäcken durch strömenden regen bis kurz vor selbstaufgabe, aufzehren der verpflegung ohne möglichkeit, etwas nachzukaufen, kompensatorisches nachkaufen bei gelegenheit bis zur überladung + zusammenbrechen unterm rucksack mit stürzen. verlust von 1 paar stöcken, verlust+wiedererlangung der kamera, dauerhafter bruch der beziehung.
wie sollte ich den ganzen weg allein schaffen mit all der ausrüstung, die ich nicht teilen kann mehr?
zauberwort lightweight
lightweight gepäck wurde vermutlich von menschen erfunden, die es satt hatten, die fürs fjäll optimierte, aber schwere fjällräven-ausrüstung zu schleppen – aber ist sie auch so qualitativ hochwertig? wenn man 850,- € für 1 zelt mit 860 g ausgibt, also 1 € pro gramm, dann sollte sich das von selbst verstehen.
mit dem lightweight gedanken öffnete sich wieder das tor der herrmöglichkeit: it’s possible, maybe, I could do it on my on.
und wer braucht schon 1/2 kg wasserfilter im gepäck, wenn reines quellwasser in sprudelnden bächen von früh bis spät die berge herunterperlt? 1 kleine gasflasche reicht für 1 person. mehr als 2/3 körperlänge muss die isomatte nicht umfassen (wenn das zelt eh zu klein für 1 bequeme luftpolsterung unterm hintern), wenn die füße aufm rucksack liegen können. kissen braucht keine*r, wenn die kleidung in 1 leeren beutel untern kopf geschoben wird. reicht 1 stock? (nein.)
but what if not?
am besten schützt man sich vorm versagen im großen ganzen, indem man die erwartungen herunterschraubt: “ich schau einfach mal, wies ist.” der kungsleden ist in 5 etappen eingeteilt, an jeder gibt es möglichkeiten der an+abfahrt. man kann immer abbrechen, wenn man merkt, die schlafkombi ist jetzt doch zu kalt, die schuhe passen nicht zum weg, die schmerzen in den füßen werden zu groß. nur, wenn zwischen den an+ausstiegen was passiert, ist man aufn helikopter (!) angewiesen – also sollte man sich vor jeder neuen etappe genau überlegen, ob das man das jetzt noch schafft.
wie sich allerdings zeigen wird, überlagert der wunsch es zu schaffen die klarköpfige einschätzung der realität. es ist nicht so, dass ich mich überschätzt hätte. ich wollte es einfach nur mehr als alles andere + habe alle kosten in kauf genommen. seither zahle ich sie ab.
st. olavsleden
nach 1 mental breakdown ende 2021 rettete mich der kungsleden-gedanke vor der kündigung. “ich mache 1 auszeit + beantrage 1 reha.” 1 halbes jahr habe ich die tour vorbereitet. das bescherte mir neben der reaktivierung des wohnzimmerbrandtraumas durch die campingkocherentzündungsprobeaktion auch den schwur, die selbst nach langen (vielleicht auch nur vermeintlich) gesunden jahren stets wiederkehrende essstörung endgültig zu besiegen, die zwar der kurzfristigen emotionalen regulation zu-, der grundlegenden langfristigen stabilisation+entwicklung jedoch abträglich ist.
reha+auszeit fielen zusammen, 1 corona-infektion kam hinzu, aus dem kungsleden wurde nichts, weil ich ja in der reha gelernt haben sollte, dass ich selbst für meine belastung zuständig sei + sie daher auch nach belieben reduzieren könne. es war 1 gute enscheidung, mit weniger gepäck 1 leichteren pilgerweg mit genügend infrastruktur zu gehen, wenn ich auch beim einzigen eintritt ins fjäll, dem grenzübergang norwegen-schweden, kurz vorm erneuten breakdown stand: “so hätts die ganze zeit sein können …”, um danach die trauer abzuschütteln + mich auf die kilometerlangen asphaltstraßen ohne kummer+klagen zu begeben. (naja. in der rückschau relativiert man vieles weg.)
nicht loslassen können
vielleicht ists die chronische krankheit, das unterdrückte, aber nicht herauszubringende virus im körper/der trotz der kindheit, der sich in allem wiEder_ständig aufbaut, was mir verwehrt bleibt/die resilienz, die nicht aufgibt + wieder aufsteht/die redensarten wie “aufgehoben ist nicht aufgeschoben” oder anders herum/oder vielleicht auch einfach das ganze teure nicht genutzte equipment, das zum handeln zwingt: du musst es doch tun.
ende 2022 entschied ich mich erneut, den kungsleden zu gehen. zuerst behielt ichs für mich, dann erzählte ichs den kolleg*innen, die die 5 wochen urlaub vertreten mussten, dann freund*innen + zuletzt der familie: “ich machs jetzt doch. ich kann nicht anders. keine sorge.”
check
ich prüfe die rüstung, tausche um + kaufe nach, probiere an + laufe ein werfe das paar wanderschuhe, das sich nicht einlaufen lässt, in den keller + hole 1 neues sportliches paar, 1 hybridschuh zwischen lauf+bergschuh, der nicht eingelaufen werden muss.
und ich verlängere die planung: jede etappe = 1 tag, plus 3 für kebnekaise hin+zurück. ich plane alle möglichen abweichungen+ausstiege + werde nicht müde zu betonen: “ich schau einfach mal, wies geht, ich probiers einfach mal.” vielleicht muss ich ja auch nur hinauffahren + gar nicht loslaufen.
ists (selbst)betrug oder erwartungsmanagement?
“man muss 1 anspruch an sich haben”, habe ich 1x geschrieben. und im nächsten satz: “ich muss mich vor dem eigenen anspruch schützen.” weil ich mich gerne übernehme wie damals, als g. der rucksack zu schwer wurde + ich so viel in meinen packte, dass ich ihn am ende nicht mehr tragen konnte. jetzt würde mir das nicht mehr passieren: ich bin allein verantwortlich – für alles! ich darf anderen nicht zur last fallen, indem ich mir schade + andere plötzlich sich um mich kümmern müssen. ich muss gut für mich sorgen.
vielleicht gehört der weg wie schon der olavsleden damals zur heilung der essstörung dazu. wenn ich hiv schon nicht heilen kann, kann ich doch wenigstens an den anderen krankheiten herumdoktorn arbeiten, z.b. ess+affektive störungen. vielleicht laden weitwanderwege gerade auch essgestörte dazu ein, sich auf 1 lange reise zu den grundlegenden bedürfnissen zu begeben: essen, gehen, schlafen.
warm+dry+safe+mätt (satt)
beim wandern kommt es nur darauf an, dass du unter_wegs nicht unter_gehst. du musst warm bleiben, dich vor nässe+kälte schützen, genug essen, um energie zu haben, schlafen, um ausgeruht zu sein + kraft zu haben, sonst ist nicht viel. du musst vorher deine ausrüstung geprüft haben, ob sie dem wetter, der gegend, den ansprüchen stand hält, du musst die richtigen funktionsstoffe tragen, genügend nahrung einpacken zwischen den aufladestationen + die strecke finden können mit karte, kompass, handy. 1 akku ist nicht schlecht auch. die schuhe sind natürlich das wichtigste.
dann lernst du beim gehen, wie viel du essen musst, dass du den berg hochkommst. ob es reicht, wenn du abends nur suppe isst oder noch 1 komplettes 700-800 kcal dryfoodmeal brauchst. ob du beim wasserkochen gleich neben der kaffee/teetasse noch die thermoskanne füllst + das porridge vorbereitest oder gleich noch 1 snack miteinnimmst. und du lernst, wenn du zu wenig eingepackt hast. zu viel spürst du schnell aufm rücken, aber das isst du runter. zu wenig schleift dich ab + zehrt dich auf. du lernst es wieder schätzen: das essen.
tell it to the mountains
ich habe nicht wenige ausgezehrte gestalten mit riesenrucksäcken auf den wegen gesehen, die mit hilfe 2er wanderstöcke wie auf 4 dünnen käferbeinen unter ihrer last langsam voranstaksten. daneben dicke bäuche, die von etappe zu etappe schmaler wurden, hosen, die immer tiefer bis unter die knie hängten + deren besitzer schworen, sie hätten gar keinen hunger am ende des 10-stündigen wandertages. schön ists, wenn der körper sich auf seinen kern reduziert + man gleich ein paar kilo fett durch muskelkraft ersetzen kann, um den nächsten aufstieg einfacher bewältigen zu können.
vielleicht machen wir uns aber auch einfach nur was vor mit diesem: back to the basics, back to the roots. dem wunsch, aus den überfüllten großhandelsupermärkten mit ihren 245 joghurtsorten rauszukommen + uns nur mit dem überlebenswichtigSTen zu versorgen. endlich reduziert einfach 2–3 verschiedene nudelgerichte statt jeden tag 1 andere yogichickensweetpotatoebowl mit quinoareis+granatapfelkernen.
denn kaum sind wir in der wildnis auf die 3–4 tüten in unserem gepäck angewiesen, stürzen wir uns nach der 1. langen entbehrungsreichen strecke auf die nächste stuga (hütte) mit ihrem von helikoptern+schneemobilen ausgestatteten beer+chips+snack-shop wie ausgehungerte tagelöhner*innen, die meilenweit übers öde fjäll auf der suche nach der nächsten aufladestation lechzten. vegetarier*innen essen plötzlich renfleischgulasch, kalorienbewusste bioprodukte werden durch tütensuppen+dosenfleisch ersetzt, 1/2 kilo speiseeis wird zur nachspeise geschleckt.
the small things matter
vielleicht machen wir uns alle was vor, wenn wir denken, so (=auf diesem weg!) wieder zurück zu den wichtigen dingen im leben zu kommen, denn ohne die infrastruktur mitten in der wildnis würden die meisten von uns nicht weit kommen. vielleicht möchten wir auch die geregelte sicherheit, auf die wir uns zwischen den kurzen momenten des eintauchens in die grenzenlosen weiten+abgründe verlassen können. vielleicht brauchen wir diesen halt, um uns fallen lassen zu können. damit wir nicht zu hart aufm boden der tatsachen aufkommen. es ist doch schöner, wenns am ende des kalten tages 1 stuga mit bastu (sauna) gibt. wenn der schlafplatz trocken mit feuer geheizt werden kann, + wir nicht unbedingt draußen im nassen zelt schlafen müssen.
vielleicht brauchen wir das geregelte maß an frieren, hungern, humpeln + ängstigen, um zu schätzen, dass wirs nicht (unbedingt) müssen, wenn wirs nicht wollen. zumindest nicht wir, in diesen breiten, zu dieser zeit. vielleicht wollen wir wieder erleben, was es heißt, sich nur mit den grundbedürfnissen auseinanderzusetzen, so dass dem kopf keine zeit bleibt, schwermütig zu grübeln, ruminieren + kreisSen. und vielleicht halten wir, weil wirs nicht gewohnt sind, diese phasen, wo wir uns + unseren körper so eindringlich spüren bis ins mark der knochen, gar nicht so gut aus, so dass wir bei jeder nächsten gelegenheit alles überkompensieren mit fett+zucker+sex.
auferstehen aus ruinen
langfristig gesehen könnte es jedoch funktionieren: sich besinnen auf das, was wirklich grundlegend zum leben wichtig ist. und was wir darüber hinaus wirklich brauchen, damit es uns gut geht.
wenn ich zurückkommen werde vom weg, werde ich erneut abstürzen. die wanderung wird in mir eingekapselt sein wie 1 traum, den ich vor ort träumte. so wie ich unterwegs ständig im blick auf die füße, die über die steine trippelten stolperten, gelegentlich aufsah, um mich erstaunt umzublicken: “ach?! bin ich wirklich da?”, so werde ich mich hinterher fragen, wenn ich die weitwinkelfotos betrachte, die entweder immer mehr oder immer weniger einfingen als das, was ich eigentlich sah: “ach?! war ich wirklich dort?”
ich werde den weg einbetten in diese 2 untergänge + ihn erneut jetzt auferstehen lassen in der hoffnung, die immer zuletzt stirbt, dass alles 1 sinn hat. so lange wir schreiBen, rufen wir sie bei ihrem namen + danken ihr, wenn wir sie spüren.
- da wusste noch niemand etwas von der kältewelle, die 2024 das land lähmen sollte mit unter 40 grad ↩︎