kungsleden (2023) – rakt fram 0/25
tag 0: berlin – stockholm (27.-28.6.)
cry baby
anscheinend ist immer noch umstritten, obs ok ist, 1 baby mit der ferber-methode überm weinen einschlafen zu lassen. die autorin des o.g. artikels rät dazu, nach spätestens 60 minuten abzubrechen. ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals so lange geschrieen/geweint hätte, bevor der schlaf mich übermannt hat – der kopf schützt sich ja vor den unangenehmen gefühlen + der körper ist bald erschöpft. auch heute noch weine ich keine minute, dann setzt der gähnmechanismus ein. ich wünschte, es gäbe etwas so wirksames gegen/für die emotionen wie z.b. den ärger darüber, angst zu empfinden, der schließlich in selbstaggression mündet.
ich versuche nicht nachzudenken darüber, was gerade passiert, sondern einfach aus+durchzuhalten, bis die reise beginnt. am 27.6. arbeite ich noch mobil, weil ich sonst nicht genügend urlaubstage vorrätig habe, die je 2-tägigen an+abreisen hab ich nicht wirklich mit einkalkuliert. als ich morgens um 7 uhr zum xten mal die reisedetails aufrufe, zeigt mir die app an, dass der zug ausfällt. es darf natürlich keinesfalls irgendwas schiefgehen, denn ich habe die züge plus die 1. übernachtung minutengenau aufeinander abgestimmt. auch das ist 1 grund, an der reise nichts mehr zu ändern: “hinfahren geht auf jeden fall. ob gehen geht, schau ich dann.”
hold on tight during the ride
anscheinend habe ich mir in den letzten jahren die panikattacken angewöhnt. sobald etwas nicht nach plan läuft, fährt das alarmsystem hoch: die amygdala erhält 1 nachricht über 1 unerwartetes, bedrohliches ereignis + bewertets dem limbischen system entsprechend: sie schickt 1 botschaft namens angst in den hirnstamm, der sofort adrenalin freisetzt. das herz schlägt schneller, das angereicherte blut rauscht durch die adern + nur noch 1 frage ist offen: laufen, kämpfen oder einfrieren? der hippocampus scrollt die erinnerungen durch – und obwohl ich laufen gelernt habe bis zum umfallen, hat sich das system angewöhnt, in der lähmung zu verharren: ich tue erst 1x nichts. ich stelle mich tot. freeze.
was mir im arbeitsalltag oft hinderlich ist, hilft mir bei neuen planungen immens: ich kann nichts gegen den anteil in meinem wesen tun, der neugierig dauernd was nächstes kennenlernen/sehen/erfahren will.
zum glück schaffts der visuelle kortex irgendwann 1 zeile weiter in der abfahrtsapp, wo steht, dass für den en 346 stockholm central die ersatzfahrt en 95400 angesetzt ist. bis das system wieder runterfährt, bin ich 1x durchgeschwitzt + an arbeit ist eigentlich nicht mehr zu denken.
als ich früh genug vor abfahrt gegen 17 uhr richtung gesundbrunnen aufbreche, bin ich eigentlich schon ko. überm berliner himmel braut sich im heißen midsommar (mittsommer) 1 gewitter zusammen, das endlich die schwüle vertreibt, während ich mich vorbereite, in den kalten norden zu fahren. zwischen breslau+budapest startet der snälltåget sj euronight nach stockholm.
ich bin froh, wenn ich endlich in meinem abteil sitze + mich mitm gekauften neben dem geschenkten wasser in der hand der lektüre widmen kann.
stigmamanagement
ich arbeite nicht umsonst in der aidshilfe. mein wahlspruch lautet “aidshilfe ist selbsthilfe” + ich wäre ohne die direkte anbindung sicher nicht so weit gekommen im eigenen stigmamanagement wie ichs meine geschafft zu haben. und obwohls einige lücken+fehlstellen gibt, die sich auch nach über 20 jahren nicht auflösen lassen, weil sie vielleicht auch weniger mit hiv als mit meiner sozialisiation oder meiner hochsensibilität zu tun haben, bin ichs ganz zufrieden, wie ich meinen alltag gestalte.
ich lebe in 1 bubble. ich arbeite in der aidshilfe, ich habe die beste schwerpunktärztin der welt, ich wechsle nicht den zahnarzt + hänge an meiner gynäkologin, obwohls sicher andere geben würde, die wortgewandter oder zugänglicher wären. ich bin etwas komisch=seltsam, also dürfen die anderens auch sein. alle meine freund*innen, von denen niemand (mehr) in berlin lebt, wissen über die infektion bescheid. neue menschen lerne ich kaum kennen. so lange ich mich in meiner blase bewege, ist alles kein problem.
draußen bin ich prepared. ich bin autark unterwegs, dass ich nicht in die lage komme, 1 pflaster borgen zu müssen. ich lebe auf abstand + schütze dadurch mein immunsystem + mein gefühlskorsett. ich pflege selten intime beziehungen, auch wenns mir manchmal fehlt, jemanden zu spüren, aber mein selbersex ist auch gut. und je länger ich alles fein hinkriege, desto öfter strecke ich die füße+hände aus der luftseifenblase heraus.
go a_way
aber erst, seit ich nicht mehr vorbei/davon/weglaufen kann, merke ich, was es heißt, 1 leben außerhalb der bubble zu führen, die größtenteils auf unabhängigkeit+selbstwirksamkeit beruht. wenn ich gehe, gehe ich langsam, ich kann nicht einfach ausweichen oder abbiegen, ich begegne den menschen aufm weg. die läufer*innen winken sich im vorbeilaufen zu, die spaziergänger*innen nicken+grüßen sich. man zwinkert nicht einfach nur 1 moment + hebt die hand + bis man die augen wieder öffnet, ist der*die andere vorbei. jetzt sieht man das gegenüber auf sich zukommen, schrittfürschritt, schaut zu boden, rechtslinks, wieder nach vorne. man mustert sich. wer bist du? und ab+an kommt man sogar ins gespräch.
der olavsleden war nicht die 1. wanderreise, die ich außerhalb der bubble gemeistert habe, aber die 1. große. vielleicht hättes nicht so gut geklappt, wäre ich nicht vorher auf reha, der absoluten begegnungsverANSTALTung, gewesen, fern jeglichem blasenlebens. die reha hat mich so weit geöffnet, dass ich bereit war, rauszugehen + nicht nur vorbei + meines weges zu ziehen, sondern in herbergen zu übernachten. es hat mir ermöglicht, fern meines aidshilfelebens ebenso warmherzige menschen zu treffen + mich zu erleben, wie ich außerhalb von jedem stressigen alltagsgeschäft bin: freundlich, höflich, lustig, ungeduldig, ängstlich. immer auf der hut. und nicht selten so schlecht drauf, dass ich die augen nicht heben kann + mir 1 grußauszeit nehme.
was es heißt, sich zu vertragen
in schweden habe ich niemandem erzählt, dass ich mit hiv lebe + nur manchmal habe ich dran gedacht, obs etwas ändern würde. ob leute mich anders wahrnähmen. ob die frauen, die meinten, ich könnte so gut schwedisch, dass ich hier arbeit fände, mir auch anbieten würden zu helfen, wenn sie wüssten, ich käme mit 1 chronischen krankheit. niemand in der aidshilfe versteht, wenn ich befürchtungen äußere, mit der infektion nicht auswandern zu können. also schiebe ich hiv nur vor?
vor der reha dachte ich, ich müsse mich von der aidshilfe emanzipieren. nur, wenn ich nochmal woanders arbeite, werde ich noch 1 weiteren entwicklungsschritt nehmen können. nach der reha wollte ich keine auszeit mehr, um über meine zukunft nachzudenken, ich wollte einfach urlaub. jetzt aufm weg zum kungsleden denke ich wieder darüber nach, ob nicht 1 kompletter lebenswechsel mit wohnungsaufgabe + ausreise genau das richtige wäre. wenn ich vom kungsleden zurückkomme, werde ich mein leben in berlin mit 1 fitnessstudiovertrag für die nächsten 2 jahre festzementieren: ich habe sozusagen die aidshilfe geheiratet. nachdem ich mir jahrelang 1 hintertür offengehalten habe, bin ich jetzt committed: “das ist mein leben. so sieht es aus.”
die angst vor der angst
und 1 bisschen bin ich doch raus aus meiner blase. ich habe kein ehrenvolles ehrenamt angetreten wie damals das jahr bei den freund*innen im krankenhaus oder zu der zeit, als ich überlegte, sterbebegleiter*in zu werden. ich habe mich dem vollen leben zugewendet, das sich an sich selbst verschwendet: dem kraftsport für die gesundheit. und dennoch bin ich 1 schritt raus in die unsicherheit mitm regelmäßigen besuch von einrichtungen, für die es vor 10 jahren noch extra welt-aids-tags-kampagnen gab, um den leuten zu versichern, dass man sich über schweiß nicht ansteckt positHIVe im fitnessstudio kein ding des denkens darstellen.
wenn mich leute fragen, ob ich nicht angst habe, allein unterwegs zu sein, frage ich meistens: “vor was?” vor was sollte ich angst haben? dann eiern sie meistens herum, bis sie herausbringen, dass es ja irgendwo räuber*innen geben könnte. manchmal kommen sie auch mit wilden tieren um die ecke. als ob wir für diese nicht alle jäger*innen wären. 1 tipp: ich kucke keine krimis, auch keine schwedischen, das scheint zu helfen. ich kucke tierdokus.
wenn ich vor was angst habe, dann davor, dass jemand herausfindet, dass ich mit hiv lebe, + ansteckungsängste entwickelt. ich habe angst vor der angst der anderen. und ich habe angst, wenn ich von der essstörung erzähle, dass leute sich vorstellen, wie ich über 1 kloschüssel hänge. das ist die angst vor der scham. vielleicht auch: angst vor der fremdscham.
höher schneller weiter
auf so 1 große reise zu gehen, ist also viel mehr, als einfach nur zurück zu den basics/zu überprüfen, wie weit man noch kommt/sich auf die probe/den ängsten zu stellen/sich auf was neues einzulassen + wieder zu öffnen/sich was zu trauen.
es geht um die überwindung der angst, die mir in die wiege gelegt mit dem schrei, dem niemand zu hilfe kommt: die urangst, die in den eingeweiden frisst + nicht satt wird. die angst, die so vielen meiner verwandten eingeredet hat, dass das leben nicht wert sei zu leben + die sichs genommen haben oder nicht mehr ausm haus gehen/gegangen sind.
es geht darum, ausm eigenen haus = über sich selbst hinauszugehen. über die eigenen grenzen. die scham. die angst. den schmerz. darüber hinaus. + noch 1 stück weiter.
+ “kann nicht” gilt nicht. ich darf 1 pause machen, ich darf mal nicht wollen. ich darf mal daheimbleiben + mich verkriechen. ich darf die grußpausen einlegen + den kopf senken. ich darf mal krank sein + weinen aus (selbst)mitleid + speien vor wut. 1x. noch 1x. aber dann muss ich weitergehen wie die frau mit der beinprothese aus afghanistan, die mir auf schwedisch ihre geschichte erzählt + fotos von den freund*innen in deutschland zeigt, die sie gerade besucht hat.
ich bin ok
sie kommt mit ihrer familie wie der rest des ausgebuchten zuges in hamburg herein + ich übersetze für einzwei leute von schwedisch auf englisch, damit sie mit ihrem mann + ihren kindern, die alle möglichen plätze übern waggon verstreut bekommen haben, zusammensitzen kann. sie zeigt mir fotos von den freund*innen, wo sie als kind unterkam, während sie im krankenhaus zig mal operiert wurde wegen der mine, die ihr das bein zerrissen hat. sie ruft die frau sogar an + ich sage kurz “hallo” zu der verschlafenen stimme, die sich freut, dass die familie 1 nette abteilnachbarin hat.
wir ziehen uns bald alle zurück auf unsere liegen + ich bin nach ko ganz ok in dieser kleinen gesellschaft + fühle mich nicht gestört wie sonst so schnell, wenns überall ständig plappert+klappert. und während unsere smartphonedisplays im dunkeln in den kojen leuchten, rattert der zug langsam aber unermüdlich über 1 nach der anderen grenze + nur in dänemark werden wir kurz zur passkontrolle ausm schlaf gerissen, der uns erstaunlicherweise alle, selbst mich, für 1 moment ins vergessen verarbeiten gehüllt hat.