kungsleden (2023) – rakt fram 11/25
tag 11: jokkmokk – kvikkjokk – tsielekjåhka (10.7.)
early break
beim frühstück seh ich die beiden kiddies von gestern abend wieder, wie sie sich alleine vorsichtig bis unsicher die kleinen teller belegen: 1/4 scheibe melone, 1 keks, 1 reis-cracker. was dürfen sie alles essen, was nicht? ists schon der 2. gang? ich fülle wieder mehrere teller + baue 1 schanze um meinen platz gegenüber der zimmergenossin draußen an der sonne.
wir plaudern noch ein wenig übers wandern+berlin. wir verabreden uns, dass wir uns verabreden können, wenn wir beide zurück in der city, was wir nicht tun, was aber zu der zeit stimmig, wies stimmig ist mit der afghanin ausm zug zu beginn, wies stimmig mit der schwedin später sein wird – und wie ich mirs immer weiter vornehme, auch noch zu tun, wenns auch daheim dann stimmig sein wird.
dèjá-vu
an der bushaltestelle das bus-dèjá-vu aus vakkotovare, nur dass ich diesmal in der schlange stehe + der bus, der kommt, nicht losfährt. es gab 2 abfahrtszeiten um 9+10 uhr + ich wollte die frühere, um nochmal in kvikkjokk im stf vielleicht reisegefährt*innen zu treffen. aber der plan ist wieder angepasst an 1 zugbaustelle + es gibt 1 längere wartezeit, die ich überbrücke, indem ich mir weiteres mückenzeug ausm supermarkt hole, diesmal 1 stick direkt zum aufschmieren auf die haut.
auf meinen rucksack passt 1 weiterer deutscher wanderer auf, den ich hier treffe, der mitm motorrad hochgefahren kam + von hier aus 1 andere strecke geht – ich weiß bis heute nicht, wo lang. ich glaubs zu wissen, habe aber wie beim deutschen in der raststuga ingen aning. ich erzähle von meinem weg + habe das gefühl, ich kennte mich bereits voll aus – verletzungen/verläufe/verstrickungen hinoderher. dann fährt der bus los + wir sitzen wieder alle allein auf unseren doppelsitzen.
wir sitzen alle in 1 bus
ich sitze wieder aufm selben platz mit meinem eigenen alten abfall, den ich in den tüten, die überall hängen, zurückgelassen. aus angst, der bus könnte sich verspäten – ich habe nur 15 minuten zwischen ankommen + bootstransfer – schreibe ich 1 sms, worauf ich 1 freundliche antwort bekomme: die busse würden fast nie zu spät kommen, es sollte locker reichen + notfalls würden sie warten. das weiterkommen ist gesichert.
tatsächlich klappt alles wie geplant. der bus ist pünktlich, ich finde problemlos den weg. zu sechst stehen wir da, die bootsführerin weist uns ein + teilt uns auf. der mann von der bushaltestelle fährt mit ihr irgendwohin, wir restlichen 5 warten auf ihren mann, der ebenfalls bootsführer. er kommt wie die bootsführerin aus aktse mit 1 frisch gefangenen fisch an, dessen namen er auch auf deutsch kennt, wie er deutsch spricht mit akzent. die bootsführerin, mit der ich geschrieben habe, nennt ihm meinen namen, so dass er mich später persönlich verabschieden kann. die anderen 4 sind 2 pärchen. das 1 davon will eigentlich nur 1 rundtour machen, er sieht auch schon müde+aufgezehrt aus vom weg. der bootsführer überredet sie, gleich einzusteigen + nicht zu warten, das wetter sei prächtig.
wir sitzen nicht alle in boot
das andere pärchen mit ihrem hündchen werde ich bis adolfström immer wieder treffen. die überfahrt übern sakkat ist nicht nur wegen der inselchen 1 zickzackkurs – der wasserstand ist auch so niedrig, dass wir denken, man könne auch durchwaten. die rundtourpärchenfrau hat selbst 1 bootsschein + kann bewundernd einschätzen, welche kör-kunst der fahrer hier mit allem sack+pack braucht.
von den schweizer*innen, dem austria-deutschen-duo, der niederländerin keine spur. auch die freundin der zimmergenossin, die ich grüßen wollte, sehe ich nicht. alle machen pause/sind heute morgen schon los/haben aufgehört. bis jäckvik treffe ich nur das pärchen von heute regelmäßig wieder, sonst bin ich hier auf der hüttenlosen etappe so gut wie allein. beim bootsanleger trennen wir uns gleich, ohne uns bekannt gemacht zu haben. ich packe an der schutzhütte noch um + schmiere mich ein, sie gehen schon los.
da_zwischen
der „zähe anstieg“, wies meine lektüre ausweist, erweist sich als der schlimmste anstieg bislang, aber da hab ich den hinter aktse schon wieder vergessen. ich erinnere mich jetzt, dass der deutsche aus der raststuga beim frühstück davon erzählte, es war sein schlimmster tag. ich erinnere mich nur nicht mehr ganz an die story, weil ich vermutlich wieder mit meinen sachen so beschäftigt war. aber jetzt weiß ich, was er meinte: es geht einfach nur ohne ende hinauf + wenn man nicht aufpasst: hinunter.
am wasserfall, wo ich gerne rasten würde, rastet schon das pärchen. ich halte mich etwas abseits + rutsche wieder gefährlich über glitschige steine beim furten. bis ich hinüber bin, ist sie schon los, er bleibt zurück für 1 snack. wir grüßen uns + ich gehe weiter. jetzt wandere ich die nächsten kilometer den berg hinauf zwischen dem mädchen mit ihrem hündchen + ihrem freund. es wird heiß + er hat die regenjacke an, unter ders ihm warm wird, wie er später erklärt, als er mich überholt.
mein pronomen ist „du“
ich bin immer langsamer geworden – mein fuß schmerzt mich heute sehr, obwohl ich doch pause hatte den halben tag + nur 8 km gehen muss. abern berg hinauf komme ich kaum 2 km in 1 stunde. als er mich überholt, bin ich schon am anschlag. er hat den hüftgürtel des gigarucksacks offen, in dem er 2 angelruten hat, 1 davon sei ihm schon beim flug nach narvik kaputtgegangen, wo die fluggesellschaft gleich sein gesamtes gepäck verlor + erst 2 tage später wiederfand, weshalb sie verspätung hätten + sich jetzt sputen müssten.
ich werde mit „Sie“ angesprochen + bekomme damit meine vermutung bestätigt, dass ich hier zu den wenigeren älteren wander*innen gehöre. der durchschnitt ist im studienalter.
ich kann mir nicht vorstellen, wie der weg hier sein muss, wenn man 27 kg aufm rücken trägt. als ich sie später anspreche, obs nicht zu schwer sei für die schultern mitm offenen gurt, erklärt sie, das würde die abstiege erleichtern. ihre extra aufgeschnallte tasche fürn hund halte ich zuerst für 1 laptop-tasche: alles ist plötzlich möglich.
8 km – mehr sinds nicht
ich habe schwierigkeiten, überhaupt die 8 km heute zu bewältigen. als ich rasten will auf 1 stein, halte ich die mückenplage den mückenterror nicht aus. die sonne bretzelt, das hirn hängt hinterher, kann sich ausm default mode nicht in den aktivmodus schalten. dabei kommts jetzt auf mich an. ich bin allein. es gibt keine stugas. ich kann nichts kaufen. niemanden fragen (naja). ich darf jetzt nichts verlieren/vergessen/verbummeln. das zelt muss stehen, der kocher muss brennen, der fuß muss laufen.
aber der fuß läuft nicht rund. der körper ist ausgelaugt, obwohl ich gestern gut aufgefüllt habe. der rucksack ist voll mit den ersatzprodukten ausm paket. sogar noch 1 paar socken hab ich jetzt dabei. 4 paar socken! ich werde aber immer müder + als mir 1 wanderer entgegenkommt, schein ich das so auszustrahlen, dass er mir extrinsisch die brücke überm fluss als zeltplatz anpreist. eigentlich will er wissen, ob aus der richtung, aus der ich komme, mit guten wasserquellen zu rechnen sei.
dreifach-check
ist es die hitze oder bin ich schon so weit heruntergekommen? mit der fahrt nach jokkmokk bin ich dem polarkreis schon zum 2. mal nahekommen. jetzt bewege ich mich direkt drauf zu + bin bald drüber weg. nach 11 tagen in schweden + 2 wochen nach midsommar ist auch schon wieder leicht der übergang zur dämmerung zu spüren – vielleicht bild ich mirs auch ein. ich glaube, dass sich was ändert. auch bei mir. jetzt wird sich zeigen, ob ich aufn strecken vorher alles gelernt, was ich für diesen abschnitt brauche:
- habe ich die verpflegung richtig berechnet + genügend dabei?
- weiß ich, wie zelten + kochen + wandern weitab von jeder infrastruktur funktioniert?
- komme ich mit der einsamkeit so gut zurecht, dass ich auch keine gespräche zwischendurch mit hüttenwirt*innen führen muss, weil keine da sind?
- habe ich für den notfall 1 plan?
notfallkärtchen
die freundin hat 1 notfallkärtchen von mir bekommen, da steht alles bis auf meine blutgruppe drauf, die ich komischerweise nicht weiß. ich glaube 0. irgendwas, was alle haben. falls was passiert, kommen die hinterbliebenen an meine passwörter. aufm mac hab ich 1 beerdigungsanweisung gegeben für 1 anonyme friedwaldbestattung. 1 patient*innenverfügung hängt zur not im zettelkasten an der flurwand.
wenn ich hier stürze, muss ich warten, bis jemand vorbeikommt. 1 notfallfunksignal, das mit gps funktioniert, wie ichs von der alten dame, die mich später überholt mit ihrem kaputten bein, lerne, habe ich nicht dabei. es darf nichts sein. es darf nichts kaputt gehen. es wird schon alles gut gehen. ich muss nicht alles so dramatisieren. vielleicht ists ja gar nicht so schwierig, wie ich immer gedacht.
„i bin so weit weit weg“
als mich der wanderer aufmuntert + nach wasserquellen fragt, merke ich: ich bin nur müde, aber ich hab alles im griff. ich kann genau sagen, wo+wie das wasser war, das ich gefunden. es gibt kleinere bäche+quellen, aber mit warmem wasser; es gibt 1 mit schaumkronen darauf, das soll er nicht nutzen; es gibt 1 klaren kühlen bach, nicht weit von hier. was ich nicht kann, ist die genaue streckenlänge/stundenanzahl angeben, die er sofort im kopf hat, wenn er mich zur brücke motiviert. auch wenn seine zeitangaben von meinen sehr stark abweichen. das könnte ich noch lernen: aufpassen, wie weit die markierungspunkte, die wichtigen: wasser/anstieg/zeltplatz voneinander entfernt sind.
ich scrolle wieder auf der app auf+ab, bis ich endlich in weiter entfernung was rauschen höre. wenn hier was rauscht, ists wasser. man freut sich gar nicht so, wenn man endlich zurück in die zivilisation kommt. man freut sich aufn supermarkt, ja, aber nicht aufn verkehr. nur auf die notwendige busverbindung.
niemand ist allein
was ich noch merke: so allein ist man hier gar nicht. weil so wenige den weg gehen ohne die hütten, weil man als einzelgänger*innen noch mehr auf die schaut, die auch allein unterwegs sind, weil man mehr ausschau hält überhaupt auf alle, die auch unterwegs sind: ist man dennoch 1 große wander*innengemeinschaft, 1 eingeschworerne sogar als die aufn etappen mit hütten. wer hier geht, geht den ganzen weg.
es hat funktioniert: ich strenge mich an, den platz zu erreichen. das letzte stück wird wie immer immer länger, aber als ich ankomme, übertrifft die aussicht alle erwartungen. es sind nur 2 andere zelte da, das pärchen baut gerade auf + in 1 leichtgewichtszelt liegt 1 andere person. ich baue auf + koche was, es ist spät. die sonne glitzert verführerisch überm wasser, so dass ich kneippe, aber nicht bade, weil der fluss nochmal kälter als 1 see. es ist auch schon fast nacht.
als ich den kungsleden ging …
auf den selfies, die ich mache, fliegen die mücken um mich herum. wenn ich mich sehe, bin ich so, wie ich mich gerne sehe: 1 selbstbewusste frau, die sich nicht scheut, ihren weg zu gehen, risikos einschätzt+eingeht. sich traut. die frau aus trautmannsfrauhofen. der weg hat mich geschliffen. ich bin demütiger geworden, weil ich fehler gemacht habe, die keine sind, weil ich aus ihnen gelernt. weil ich gelernt, mit ihnen zu leben. weil sie mich nicht zerstören. „was dich nicht umbringt, macht dich härter.“ aber nicht alle schaffens in dieses stadium, wie niles crane bei frasier zu seinem vater sagt.
es war ein paar mal knapp bei mir. als ich zur welt kam mit dem vitamin-k-mangel + mir das zu dünne blut durch die adern lief, so dass ich neugeboren mitm helikopter zur bluttransfusion in die kinderklinik musste, wo ich 3 wochen lang zur nachsorge in 1 einsamen krippe schlief, wars nicht so klar, dass das gut ausgehen würde. als mir 3 jahre danach keine haare wuchsen, sorgten sich alle, es wäre etwas im blut gewesen, + 1 positiver hepatitis-c-test 30 jahre später könnte die bestätigung dafür sein (jedoch nicht fürs fehlende haupthaar). als ich mitm moped in der 90°-kurve stürzte, als ich mir aus wut+verzweiflung 2–3 hand_voll tablettenmix des vaters einwarf, mitm auto lebensmüde auf der autobahn lkw-fahrer durch zu nahes auffahren + plötzliches ausscheren erzürnte, als ich beim kerzenschein einschlief + beim brennen des zimmers aufwachte, als ich die hiv-diagnose abholte + die kaputte standuhr auf der hauptstraße mit ihren rasant durchdrehenden zeigern mir meine nach damaligem wissensstand verkürzte lebenserwartung anzeigte, als ich am morgen nach 1 essstörungsanfallabend beim überqueren aufm fahrrad von 1 taxi angefahren wurde …
gesCHichte*r
all das sehe ich in diesem bild + noch mehr. wie weit ich gekommen bin auf meinem weg. wie weit ich vielleicht noch kommen werde. „man muss jeden tag so leben, dass es der letzte sein könnte“, sagte der missionsarzt zu mir, als ich nach 2 jahren in der uniklinik in würzburg unglücklich ihm gegenüber zur hiv-behandlung saß. da war ich 25 jahre alt. es hat ein paar jahre gedauert, aber jetzt kann ichs ganz gut. ich würde gerne den kungsleden zu ende gehen, aber ich gehe ihn tatsächlich so, dass ich an jeder stelle aufhören könnte – oder vielmehr: wenn was passiert + ich falle um, wärs ok. (wenn ich allerdings dumm stürze + mir was breche, wärs scheiße.)
wenn ich mich ansehe, bin ich zufrieden mit mir, weil mir der weg die hamsterhängebacken aufgezehrt hat, die mir sonst vom kinn hängen. die mich an den vater erinnern. auch das ist 1 problem, dass die essstörung motiviert. so viel body positivity kann ich mit meinen ganzkörpertätowierungen gar nicht aufbauen, dass ich dieses antlitz, das im dickerwerden immer mehr dem vater gleicht, irgendwie akzeptieren könnte. sobald ich zunehme, überwiegen die männlichen anteile in mir + das feminine zerfließt in 1 schiefen masse, die vom vater den janusmund geerbt hat: der 1 mundwinkel zeigt wie 1 lächeln hinauf, der andere fällt traurig hinab.
gegen die bipolare lippenform kann ich nichts tun. akzeptiere das, was du nicht ändern kannst. gegen die den stieren blick des vaters gehe ich an.