st. olavsleden 2022 (tvärtom) 20/27
st. olavsleden
trondheim – sundsvall, 650 km
tag 20: pilgrimstad – grimnäs (9.9., 29,2 km)
der nerv hat sich gelöst. so auch ich
schreibe jetzt jeden morgen in meinen aufzeichnungen dazu, wo ich aufwache, damit ich zumindest weiß, wo ich bin. heute pilgrimstad. abends in grimnäs. was kommt dann?
ich beeile mich, früh morgens rauszukommen. vincent geht täglich erst um 11 uhr los, deshalb kommt er so spät an. wir sind verschiedene chronotypen. bin gespannt, ob der weg so sein wird, wie berichtet. ich würde mich freuen, die schwedin noch kennenzulernen, aber sie schläft. mal 1 begegnung, der ich nicht ausweichen würde, auch schön zu bemerken. später aber werde ich 1 pilger, den ich von 1 foto von der facebookseite erkenne, am supermarkt sitzen sehen + vorbeigehen, eigentlich nur, weil ich erst einkaufen will, bevor ich 1 gespräch anfange, aber als ich mit 1 eis + 1 dose cola in der hand aus der tür trete, steht schon 1 älterer herr da + quatscht ihn an, da will ich mich nicht dazwischendrängen. ich warte die cola lang ab, ob er geht, dann gehe ich.
ich mache mein normales programm mit laut wasserkochen + tür auf beim packen, obwohl wir alle so nah beieinander mit dünnen wänden. sich auch die dinge bewusst machen, die man früher/sonst anders ge/macht: auf zehenspitzen keinen mucks. jetzt könnten wir jemanden wecken, aber meine güte: ich kann mich nicht überall so verausgaben mit zurücknehmen. ich koche zigmal wasser auf.
die wirtin ist keine herbergsmama, sondern 1 verwalterin. sie hat kein interesse für leute, die kommen, sondern versorgt sie vorschriftsmäßig. im hotel ists auch nicht anders. komisch, dass es mir hier so auffällt. für die 50 sek gibt es toastbrot+scheiblettenkäse. 70 sek frühstück bei knut+rut mit selbstgemachtem smoothi, porridge (gröt), rührei, croissants. es kann so unterschiedlich sein. am ende ist nichts verdient dran. meinen rest milch stelle ich in vincents leeres fach.
„besitz belastet“, sagt doris. was ich zurückließ:
- steine
- feuerzeug
- pflaster
- zippbags
als ich losgehe, komme ich wieder am pilger*innenplatz vorbei + stelle fest, dass auch 1 meditationskapelle hier steht. habe ich gestern nicht bemerkt. auch mal was ohne rucksack machen! ich lege den rucksack auf die bank + hole mir in der kapelle 1 stempel. ich mache 1 sonnengruß. es kommt nicht auf die länge der meditiation an, sondern dass man sie überhaupt einbaut ins leben/den allEtag.
dankbarkeit+demut
ich packe die spirituelle ader aus + möchte verbunden sein mit den leuten aufm weg. ich wusste vor abfahrt nicht, ob ich das schaffe, mich so einzulassen, ins gespräch zu gehen. jetzt wünsche ich mirs. so offen bin ich schon geworden. so sicher bin ich mit mir. wenns auch nicht der dauerhafte grundzustand ist: ich weiß, wies sein könnte. wer ich war, wer ich bin, wer ich sein könnte.
das bettnässende mobbingkind aus der dorfwirtschaft mit dem cholerikervater + der märtyrermutter, die neurotische suizidale gothic-jugendliche mit dem zeichentalent + der sterbeanzeigensammlung, die essgestörte nach berlin geflüchtete lesbe mit dem wohnungsbrand, die hiv-infizierte beziehungsunfähige co-abhängige mit den unterdrückten missbrauchstraumata, die studierte therapierte stabilisierte resozialisierte arbeitende, die hypersensible kinderwunschlose singuläre schamlosE schreiBende frau. ich.
der podcast über demut. demut gegenüber sich selbst.
„Ich arbeite mit Menschen, die haben Schlimmes erlebt. Und bevor sie überhaupt ins Bewusstsein lassen können, zu erinnern, was sie Schlimmes erlebt haben, biete ich manchmal an, als Brücke, irgend jemandem in der Gruppe, der oder dem sie trauen, zu sagen, ‚Alles, was damals war, ist genau so gewesen.‘ Das heißt, der Schritt zur Demut wäre – auch wenn man noch gar nicht weiß, was es war – anzuerkennen, es war so! Und nicht mehr im Bewusstsein dagegen zu kämpfen.“
„Die Demut bedeutet für mich die Bereitschaft, anzuerkennen, was ist, wie es ist. Die Dankbarkeit ist … getönt mit Freude darüber, dass etwas so ist, wie es ist.“
Wolf Büntig, Arzt und Psychotherapeut in: Die Demut – Fessel oder Tor zur inneren Freiheit? von Anja Mösing. Bayern 2 radiowissen. 29.06.2022.
nichts für selbstverständlich halten
die hüfte läuft unerwartet problemlos. ich verzichte auf das wärmepatch + bedanke mich bei mir selbst, weil ich mich so gut um mich gekümmert habe. verringerung der strecke, mehr pausen, mehr dehnen + cremen: hot+cold is the stuff!
aber jetzt verplant: also an der e14 entlang 24,4 km (rönn rönn rönn) oder übern berg 3,5 km mehr (surr pfeif shhh)? ich werde es am abzweig entscheiden. + später nochmal alle komoot-strecken prüfen, damit nicht noch so 1 fehler vorkommt.
erwartungen+überwindung
der weg ist zunächst nicht so beschwerlich wie die dramatische erzählung von vincent. zunächst 1x viele abgeholzte, im nachwachsen begriffene felder. dann ganze bäume, die aus ihrer verankerung gekippt sind. ich mache rast an 1 see + sehe dem wasser zu, wie es am ufer brandet.
dann beginnt das dickicht mit den zahlreichen sturmschäden. stämme, zweige, ganze bäume liegen kreuz+queer. es ist bald nicht mehr klar, wo der weg eigentlich langführt. ich folge nicht vincents rat, stämme zu umrunden, weil ich mich im unterholz verlaufe + den trampelpfad erst nach trampeln durch verwachsenes gelände wiederfinde. einfach drüber über den fall. ich bin durch die letzten 400 km gut vorbereitet auf diesen abschnitt: umwege+hindernisse können mich nicht erschrecken. ich erwarte kein ponyhofleben mehr.
in die hålbergsgrottan gehe ich nicht hinunter, ich müsste den rucksack absetzen.
hålbergsgrottan in den 1420-er jahren bewohnte 1 mann namens salve sverkersson aus anviken die höhle. er wurde beschuldigt, jan björnsson aus förberg im streit um jagd+fischerei getötet zu haben. er wurde schließlich vom unionskönig erik av pommern begnadigt. 1974 wurde 1 krug in der höhle gefunden, der um 1580 datiert wurde. er stammt aus 1 belgischen herstellung. auf dem steingut sind tanzende abgebildet + es findet sich 1 eingravierter text in 1 alten deutschen dialekt. leider sagt das schild nicht, was draufsteht oder um welchen dialekt es sich handelt. gwieß ebba sowos.
mit 1x sind scheinen alle hindernisse überwunden + der weg wird wunderbar, 1 schmaler pfad zwischen moosbewachsenen steinen + vollblauen heidelbeersträuchern am ufer entlang, die sonne scheint dazu. was habe ich für 1 glück! ich esse mich wieder blaubeerensatt + denke nicht an die zeit. weils keine bänke gibt, pausiere ich auf steinen. aus dem wald heraus beginnt 1 lange schotterstraße. anwohner*innen haben stühle aufgestellt für 1 rast. auf 1 schild steht, man könne den wein probieren in der kanne, aber der scheint seit tagen oder wochen nicht mehr geleert/befüllt. an der kirche holen wir uns frischwasser + machen 1 foto vom pax-stempelkasten.
im supermarkt in gällo schaffe ich es, nicht den halben laden leerzukaufen. die cola trinke ich gleich + gebe die dose wieder ab, lege den bon auf 1 tresen. der pilger, den ich vorhin erwähnte, ist jetzt im gespräch + ich gehe mit meinem eis am stiel die hauptstraße hinunter – die hüfte zwickt + ich halte mich nahezu bewegungslos aufrecht, im stechschritt voran. weiß gar nicht, wieso das jetzt.
wann gehe ich in 1 begegnung rein, wann weiche ich aus?
das ist mein thema. ich weiche 1 zweites mal aus an 1 abbiegung, als ich unerwartet (wann er warte ichs?) 1 einsames haus treffe + glaube, jemand in 1 weißem kleid (1 kind?) am fenster stehen + den vorhang wegschieben zu sehen. ich springe vorbei + bin schon aufm falschen weg. vielleicht wars 1 geist. an der hauptstraße sehe ich 1 schild, das zurückweist, es ist 1 lachender fisch drauf abgebildet. die erinnerung an den mann ohne schuhe in der lüneburger heide, der 1 kleines blondes kind aufm arm herumträgt + uns ausweicht. es könnten christ*innen sein.
ich nehme nach dem supermarkt den umweg durch die berge. ich habe zum 1. mal seit beginn musik an, die mich vorwärts treibt. meine uhr zeigt mir den weg nicht richtig an, also muss ich den auszeichnungen folgen, zum 1. mal. aber nach einigen windungen gehts nur noch gradaus. ich bin ganz in mich vertieft + schaue den füßen beim gehen zu. dann gibts 1 wisch + als ich den kopf hebe, sehe ich 1 tier übern weg laufend verschwinden. ich glaube, es ist 1 elcharsch. es ist 1 bisschen schade, dass ich nicht aufgepasst habe. aber andererseits passt es zur einzigen begegnung mit 1 elch. auch er nur 1 geist. in ein paar tagen werde ich in 1 gästebuch unter 1 kind schreiben, das von der grandiosen älgjakt berichtet, auf der es war. ich lasse zwischen uns etwas platz.
am ende des hügels 1 aussichtsbank, auf die man steigen muss, um die aussicht zu haben. ich schieße gut aussehende selfies, zufriedene. ich stampfe auf dem tisch + tanze zu 1 lied, ich nehme mir den raum, wie die traumatherapeutin mit mir in der reha geübt. ich halte mich selbst mit geschlossenen augen + kreuze für das mut-chakra die arme vor der brust: augen auf!
Me‘ hot geboyt tsufile grenetsn
Dumai/Think. Daniel Kahn & The Painted Bird
Dumai Dumai Dumai
Afn land un in di mentshn
Dumai Dumai Dumai
doch nochmal nach den 3 monaten in der akutklinik + der abgebrochenen psychoanalyse + der kurzzeitherapie 1 traumatherapie? oder coaching? oder gar nix mehr? die erinnerung an all die anträge wegen schwerbehinderung, gleichstellung, reha, wo jetzt überall schon unsere lebensgeschichte in dramatischer antragsformzuspitzung niedergeschrieben ist. meine güte!
als ich in grimnäs ankomme + auf 1 rastplatz zusteuere, winkt mir 1 mann, der vor seinem haus was richtet. die sonne steht noch hoch überm see, aber es ist schon nach 17 uhr. ich pausiere nur kurz für den moment.
„värtfull katt utan traffikvett“
in der unterkunft werde ich vor der stuga von der hauskatze begüßt. vor dem haus steht 1 schild, auf dem 1 katze aufgemalt ist: „värtfull katt utan traffikvett“– die wertvolle katze weiß nichts vom verkehr. nyckeln stickar. ich kanns nicht glauben, aber der schlüssel steckt + gehe rein. bevor ich mich umsehen kann, fährt der mann von solgerd in den hof + ich gehe raus, ihn zu begrüßen. während mir die katze um die beine schleicht, erklärt er mir, dass sie das schild aufgestellt haben. die katze heißt selma wie meine nichte <systerdotter>.
fürs frühstück ist alles im kühlschrank, ich soll nehmen, was ich brauche. auch sonst steht alles in der küche zur verfügung. auch waschmaschine etc. so viel großzügigkeit in den menschen hier. ich sehe mich um + schließe die tür vom wohnzimmer, ich kann gar nicht alle räume gebrauchen. ich drehe die heizung herunter + benutze zuerst das falsche bett, bis ich merke, das andere ist bezogen. bettwäsche+handtücher auch?! ich stelle den wäscheständer in die riesige diele.
solgerd kommt nach langer fahrt, sie war auf barnvakt bei ihren kindern. wir reden nicht viel, weil wir müde sind, aber wir spüren uns. wir drücken uns fest – vielen dank für alles! ich bin so froh, dass es euch gibt, dass ihr hier auf meinem weg seid, dass ich euch treffen darf, dass ihr in mir das vertrauen stärkt, dass die meisten leute gute menschen sind. warum sollten sie nicht?
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